Jens Mattern Jens Mattern
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Man muss eben
Warschau zu Beginn der russischen Invasion


Die Halle des Busbahnhofs im Warschauer Westen ist ein Ort der Hoffnung. Hoffnung für viele Frauen und Kinder, hier Essen, Kleider und Medikamente, sowie eine Unterkunft zu bekommen, weit weg von den Bomben, den Raketeneinschlägen, den Schüssen.
Und Hoffnung für wenige Männer, die sich der Gewalt entgegensetzen und selbst Gewalt ausüben wollen, die in den Krieg ziehen.
Vor dem schäbigen Bahnhof-Kastenbau stehen Zelte, in denen sich die Ukrainer mit Kleidung und Essen versorgen können. Ein Plakat verspricht in vier Sprachen sichere Unterkunft für LGBT-Menschen.
Drinnen drängen sich die Frauen mit Rucksäcken und Koffern vor dem Verteilerstand, Helferinnen in Leuchtwesten reichen Kaffee, Kuchen, Windeln über den langen Tisch. Manche Ukrainerinnen sind aufgedreht wie ihre Kinder, viele wirken erschöpft und löffeln apathisch aus einem Plastiksuppenteller. „Ruhm der Ukraine!“ schreien zwei junge Männer, die Fäuste gereckt durch die Halle, einige antworten mit dem gängigen Gegengruß „Ruhm den Helden“.
Neben der Essenverteilung steht ein Stand mit jungen Menschen, oft gepierct und über Labtops gebeugt - sie gehören zur Initiative „Bestands-Gruppe“, die Unterkünfte organisiert. Denn die Stadt gilt hier als überfordert. „Tausend technische Fragen müssen wir lösen“ räumte jüngst Warschaus Oberbürgermeister Rafal Trzaskowski ein.
„Wir waren am Anfang zu dritt hier, jetzt sind wir hundert.“ meint Justyna, eine junge Frau sachlich, die sonst für ein Filmfestival arbeitet. Als Vertreterin der Kulturbranche weiss sie durch Corona, was Existenzängste sind. Nach der regulären Arbeit kommen die Freiwilligen um 17 Uhr her und arbeiten bis ein Uhr nachts. Sie haben bereits eine eigene Software entwickelt, um die Menschen zu verteilen. „Gestern haben wir 175 Personen untergebracht, das ist noch nicht so viel, aber wir wollen auch an anderen Orten präsent sein.“
Initiativen wie diese sprießen gerade wie Pilze aus dem Boden. Ukrainer und Polen haben ihre historisch bedingten Konflikte; aber der russische Angriffskrieg, das Leid der Zivilisten aktiviert die polnische Solidarität – eine Art Nationaleigenschaft.
Auf der anderen Seite ist Polen das wichtigste Zielland der Ukrainer – dort leben bereits etwa 1,5 Millionen ihrer Landsleute und die Sprache ist ihnen nah. Der polnische Grenzschutz vermeldet seit dem 24. Februar 575 000 Grenzübertritte aus der Ukraine.
Nicht verzeichnet ist die Anzahl derjenigen, die zurück reisen.
Ein hochgewachsener Mann mit exakt gestutztem Bart und Militärrucksack gehört augenscheinlich zu ihnen. Er wird von einem der Helfer mit Leuchtweste, der Englisch spricht, durch die Menge in der Halle begleitet. Der junge Kanadier, dessen Frau ukrainische Wurzeln hat, ist bereit zu reden, auch ein Foto ist erlaubt, nur sein Name soll nirgends erscheinen.
„Ich bin beeindruckt, wie sehr der (ukrainische) Präsident für sein Volk sorgt und es bewegt mich, dass die Menschen dort so leiden.“ so seine Motivation. Auch bringe er eine militärische Ausbildung mit, die er gerade abgeschlossen habe. „Ich habe nicht viel Vorbereitungen getroffen, ich bin so schnell wie möglich hierher“. Das Gespräch wird unterbrochen, sein Begleiter weiss nun, wo der Bus nach Lviv (Lemberg) abfährt. Dort wird er dann ein Anwerbungszentrum aufsuchen.
Die Ukraine wirbt offen um Ausländer, die kämpfen wollen. Auch die Botschaft in Warschau hat Telefonnummern auf ihrer Facebookseite, für potentielle Freiwillige der „Internationalen Legion zur Territorialverteidigung der Ukraine.“ We anruft, hört einen Anrufbeantworter. Anfang dieser Woche waren andere Nummern zu finden – die auf das polnische Militär wiesen, wie die Zeitung Rzeczpospolita nachwies und somit eine Unterstützung der Regierung in Warschau bewiesen sieht, die sich hierzu bedeckt hält. Derzeit ist es polnischen Staatsbürgern nicht erlaubt, in fremden Armeen zu dienen; eine Gesetzesnovelle soll dies bald ändern.
Vor dem Bus nach Lviv in der Westukraine sind zumindest keine Polen zu hören. Jan ist dabei, ein 57-jähriger Ukrainer, der zuerst zu seiner Mutter im ostukrainischen Poltava will, dann zu den Truppen. Seinen gut bezahlten Job in den USA hat er aufgegeben. „Ich konnte dort nicht essen, nicht schlafen, das ist mein Zuhause, wo ich hin will, verstehst Du?“ Sein Wehrdienst liegt lange zurück, das war noch zu Sowjetzeiten, die Reise ab Lviv ist noch nicht organisiert und gefährlich. Die russischen Truppen stoßen dort nach Süden vor. Dennoch wirkt der Ukrainer gelöst.
Noch riskanter scheint eine Fahrt ins fast eingeschlossene Kiew zu sein. Und doch steht im unbeleuchteten Teil des Bahnhofsplatzes ein Bus mit der Aufschrift „Kiyw“ bereit. „Es ist die letzte Fahrt“ meint eine junge Ukrainerin mit Pudelmütze in gutem Polnisch. Im unteren Bereich des Doppeldeckers sind Windeln auf den Sitzen, Helfer tragen Kartons mit Lebensmitteln und Medikamenten in den Gepäckraum, wo sich bereits Militärrucksäcke befinden. In der oberen Etage sitzen hinter verdunkelten Scheiben einige wenige mutige Passagiere. „Wir sind vernetzt in Kiew und bekommen dann die sicherste Route vermittelt“ so die Angestellte der Buslinie mit dem Vornamen Julia, eine studierte Juristin aus Kiew. Sie selbst bleibt hier.
Das Gespräch wird immer wieder von ihren Tränen unterbrochen, die ihr peinlich sind. Es sind Tränen der Verzweiflung, aber auch der Rührung – dass Polen soviel macht, dass sich nun andere Länder für die Ukrainer engagieren, die sich lange allein gelassen gefühlt haben. Unter den Helfern, die Kartons bringen, sind viele Weißrussen, die vor den Verfolgungen im Herbst 2020 nach Warschau geflohen sind.

Die beiden Busfahrer, Aleksander und Wlodymir, beide nahe an der Pensionsgrenze, geben ihre Angst zu, auch wenn sie nach außen stoisch wirken. „Man muss eben“ wiederholt Wladimir mehrfach.
„Mein Bruder ist seit zwei Tagen in Kiew, er hat bereits 2014 im Donezk gekämpft“ meint der Ehemann von Julia, ebenfalls mit Vornamen Aleksander, „ich bleibe vorerst hier.“ Die Phase der Panik, die Scheu einen anderen Menschen zu töten, dass alles hätten die Ukrainer vor acht Jahren durchlebt. Jetzt sei das anders. „Wenn es schlimmer wird, komme ich nach.“
Die Umarmungen mit den Helfern nehmen zu, der Bus muss bald losfahren. „Ich melde mich bei Ihnen am Freitag per WhatsApp, ob er angekommen ist“ so Julia. Publiziert Anfang März, Frankfurter Rundschau, Kurier


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