Jens Mattern Jens Mattern
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Litauen: von offenen und geschlossenen Grenzen
Die Wirtschaft boomt, doch die Grenzgebiete leiden unter Auswanderung und Stagnation
Bau- und Braukunst bescheren der litauischen Hauptstadt Vilnius derzeit hohe Besucherzahlen.
Helle Kirchen und Patrizierhäuser leuchten in der Sonne, dazwischen strömen die die Touristenströme, fließt das beliebte litauische Bier. Angereist wird im klimatisierten Panoramazug.

Ab Juli wird mit Litauen erstmals eine ehemalige Sowjetrepublik der EU-Ratspräsidentschaft vorstehen und das modern anmutende Land punktet auf der neu erstellten Webseite mit seinen Vorzügen – dem hohen Akademikeranteil, den niedrigen Steuern und dem Wirtschaftswachstum von 3,7 Prozent im Jahre 2012.

Doch mit einem Superlativ hält man sich lieber bedeckt – mit seinen knapp drei Millionen Einwohnern belegt das baltische Land den EU-Spitzenplatz was Auswanderung angeht – im vergangenen Jahr verließen 41 000 zumeist junge Menschen das Land, im „Rekordjahr” 2010 kehrten ihm über 82 000 den Rücken.

Dank den offenen Grenzen innerhalb der EU und den besseren Verdienstmöglichkeiten im Westen.

„Wir können die Emigration nicht verhindern, doch wir können den Litauern weltweit helfen, ihre Identität zu bewahren und Hilfestellung bei der Rückkehr anbieten”, meint Kristina Dambrauskaite, Chefin für Jugendpolitik im litauischen „Jugendministerium”. („Jugend”: von 14 bis 29 Jahren). Gerade die 25 bis 30jährigen migrierten nach dem Studienabschluss und die sollten ja das Land voranbringen.

Ein Programm namens „Create for Lithuania” soll nun die Erfolgreichen im Ausland wieder abwerben. Die Rückkehrer sind auch letztens zahlreicher, doch sie kehren vor allem in die größeren Städte zurück.

Von Auswanderung ist vor allem die Region betroffen, wo sich eine offene Grenze in eine geschlossene wandelte: die Demarkationslinie zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken Litauen und Weissrussland ist heute die streng gesicherte Schengen-Außengrenze.

In der grenznahen Kreisstadt Salcininkai gibt es darum kaum Betriebe. Neben modernen Supermärkten stehen gelbgestrichene Holzhäuser und ältere Frauen an der Hauptstraße, die Pfifferlinge und Walderdbeeren in Gurkengläsern feil bieten.
„Ich will hier bleiben” meint dennoch OIga, Anfang 20, eine Vertreterin der russischen Minderheit. Sie arbeitet in einem Restaurant, ihr Freund hat einen besseren Job. Doch die meisten der Schulabgänger ihres Jahrgangs wären im Ausland, hätten dort Kinder, die kämen nicht mehr zurück.

Auch Katarzyna Griniewicz hat sich nach einem Studium der Außenpolitik für die Heimat entschieden, sie ist Koordinatorin für Jugendarbeit in Salcininkai. Die EU finanziert Programme für Jugendaustausch und Staatsbürgerkunde, „doch wer hier bleiben will”, meint sie offen, „der muss sich meist selbstständig machen.”

Dabei gibt es Menschen in der Region, deren Leben die Grenze weit mehr berührt, ja ihre Existenz regelrecht zerschneidet.

So Frau Jadwiga aus dem nahe liegenden Dörflein Sakaline. Die pensionierte Kolchosearbeiterin im Kopftuch kommt gerade von der Gartenarbeit, ihre ebenfalls schon betagte Tochter sitzt auf der Bank vor der grün gestrichenen Kate.

„Nein, hier gibt es keine jungen Leute mehr, aber ich habe Enkel, die jeden Sonntag nach mir schauen.” meint sie mit einem stolzen Lächeln. Andere Verwandtenbesuche gestalten sich schwieriger. Der Rest ihrer Familie und des verstorbenen Mannes wohnt im ehemals gleichen Dorf, dessen östlicher Teil jedoch heute zu Weissrussland gehört und Kulkischki heisst.
Die Grenze wurde nach der Wende nach Kolchosezugehörigkeit gezogen. Durch den EU-Beitritt Litauens kam der drei Meter hohe Zaun mit Stracheldraht hinzu, der auf litauischem Territorium steht und das Dorf mit seinen Holzhäusern aufteilt.

Will sie ihren Schwager, die Nichten oder Vettern sehen, so muss sie diese anrufen und sich vor dem Zaun verabreden – dort können sie sich durch Rufe austauschen. Dabei müssten sie 50 Meter vor dem Metallgitter Abstand halten „doch die guten unter den Grenzern sind da nicht so streng” meint sie auf Polnisch; Litauisch, die Sprache der Grenzer, beherrscht sie nicht. Die Gegend ist traditionell von Polen und Weissrussen bewohnt.

Ein Jahresvisum, das in Salcininkai beantragt werden muss, kostet um die 150 Euro, östlich des Zauns sind die bürokratischen und finanziellen Hürden noch höher.
Diese Misere betrifft noch weitere durchtrennte Orte.

Litauen will allerdings während der Ratspräsidentschaft die Beziehung zu östlichen Nachbarstaaten der EU intensivieren.
Ob dann Aleksander Lukaschenko, Weissruslands diktatorisch regierender Präsident zur großen „Östliche-Partnerschafts-Konferenz” im November nach Vilnius geladen wird, ist noch offen. Denn dieser steht wegen Drangsalierung der Opposition in Brüssel auf der schwarzen Liste.

Frau Jadwiga hofft jedenfalls, dass die 50 Kilometer visafreie Zone, die schon lange zwischen beiden Ländern diskutiert wird, noch zu ihren Lebzeiten umgesetzt wird.

Das würde sie und ihre Verwandtschaft grenzenlos freuen.

Kurier, erschienen am 29.06.2013
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